„Die Päckchen an der Tür“ – eine Geschichte von Ingrid Ebert ausgesucht für Euch von Friederike und Norbert

Die Geschichte, die ich erzählen will, begann am 1. Advent und sie muss durchaus nicht am Heiligen Abend ihr Ende finden. Sie begann damit, dass Frau Schmidt mit ihrem Hund Karli von der üblichen Nachmittagsrunde heimkam, die zwei Treppen zu ihrer Wohnung hinaufkeuchte und den Schlüssel ins Schlüsselloch stecken wollte.

Die Geschichte begann mit einem kleinen blauen Päckchen, verschnürt mit rotem Schleifenband. Es hing an der Türklinke. Frau Schmidt blickte misstrauisch um sich, lauschte, aber nichts rührte sich. Nur aus der Nachbarwohnung drangen Weihnachtslieder. Müllers hatten wieder die Platte der Thomaner hervorgekramt und würden sie nun Sonntag für Sonntag singen lassen. „Verstehst du das?“, fragte sie

ihren Hund. Wollte ihr einer einen üblen Scherz spielen? In diesem Hause war alles möglich. Gutes hatte sie nicht zu erwarten. Meiers Kinder zum Beispiel, denen wäre einiges zuzutrauen. Oder der Schulze, ob er sich dafür rächen wollte, weil sie ihn neulich wegen des Lärms in der Nacht angezeigt hatte? Sie könnte das Päckchen einfach übersehen, aber wenn sie erst wusste, was es enthält, würde sie auch den Absender kennen. War es eine tote Maus, dann konnten es wirklich nur Meiers Kinder gewesen sein, wegen der Katze nämlich, die sie nicht im Hause geduldet hatte. Das ging doch auch nicht, ihr Hund und dann noch eine Katze. Und mit Müllers verband sie seit Jahren eine innige Feindschaft. Das hing irgendwie mit den Mülltonnen zusammen, eine uralte Geschichte, die keiner mehr so richtig zu erzählen vermochte. Nein, Freundliches hatte Frau Schmidt aus diesem Haus nicht zu erwarten. Mit den meisten wechselte sie ohnehin kein Wort.

Sie fingerte das blaue Päckchen von der Klinke, schloss die Tür auf, um hinter sich Riegel und Sicherheitskette vorzuschieben. Frau Schmidt zog sich Mantel und Schuhe aus. Karli verschwand in der Ofenecke. Er hatte genug Jahre hinter sich, so dass ihm Neugier kaum zu schaffen machte. Frau Schmidt legte das längliche Päckchen vorsichtig auf den Tisch, löste das Schleifenband, wickelte das Papier ab. Eine gelbe Kerze und ein Tannenzweig lagen vor ihr. Das war’s. Das war’s, was sie am allerwenigsten erwartet hatte! Sie setzte sich und schaute auf die Kerze. Wer war der Geber? Viel leicht eine Aufmerksamkeit von der Kirche. Doch die hätten sich sicher zu erkennen gegeben. Aus dem Hause war es keiner. Und wenn doch?

Am 2. Advent hing ein rotes Päckchen an der Türklinke. Diesmal nahm es Frau Schmidt gleich ab, verschloss die Tür hastig und öffnete in Mantel und Schuhen das Geschenkpäckchen. Es enthielt einen Zellophanbeutel mit Gebäck. Zufall war hier nicht im Spiel. Sie hatte auch nie an den anderen Türen des Hauses ähnliche Päckchen gesehen. Sie war gemeint, allein sie! Aber wer verbarg sich dahinter? Gute Bekannte hatte sie keine. Mit den Verwandten wollte sie nichts zu tun haben, die waren doch nur auf das Erbe aus. Ja, wollte sich einer auf diese Art bei ihr einschmeicheln? Auch den Gedanken verwarf sie wieder. Sie kochte sich einen Kaffee, zündete die gelbe Kerze an und kostete von den Plätzchen. Hatten nicht Meiers neulich gebacken?

Am Montag passte Frau Schmidt im Treppenflur Frau Meier ab. Sie bedankte sich herzlich und gab ihr eine Tafel Schokolade für die Kinder. Aber Frau Meier wusste nichts von einem Päckchen, weder von einem blauen noch von einem roten. Das war peinlich. „Aber nehmen Sie die Schokolade ruhig trotz dem, und es tut mir leid, die Sache mit der Katze.“ Frau Schmidt verschwand schnell hinter ihrer Wohnungstür. Meiers schieden aus. Blieben Müllers nebenan. Sie zu fragen hatte Frau Schmidt für heute keinen Mut mehr. Sie wartete auf den 3. Advent.

Wie üblich ging sie am Sonntagnachmittag mit Karli auf die Straße, kam aber schneller als gewöhnlich zurück, keuchte die Treppen hinauf, sah es schon von weitem, das grüne Päckchen. Es bewegte sich noch an der Klinke hin und her, war eben erst an diesen Platz geraten. Und im Haus war alles still, nur die Platte von Müllers, und die Thomaner sangen von Frieden. Also Müllers. Wollten sich vielleicht aussöhnen. An ihr sollte es nicht liegen. Kurz entschlossen klingelte sie an der Nachbartür. „Ich wollte nur einen schönen Advent wünschen, und vielen Dank auch“, sagte Frau Schmidt mit einem Blick zum Päckchen. „Dank, wofür?“ Auch Müllers waren ahnungslos. Herr Müller lud die Nachbarin zum Kaffee ein. Wir hören gerade so schöne Musik. Er war froh, dass sie das erste Wort gefunden hatte. „Ja, danke“, meinte Frau Schmidt verwirrt. Sie ging in ihre Wohnung, öffnete das grüne Päckchen in Eile und holte ein gesticktes Weihnachtsdeckchen heraus. Eine Kreuzsticharbeit. Frau Schmidt, die selbst gern handarbeitete, wusste das Geschenk zu schätzen. Sie stellte die Kerze darauf und ging mit einer Schachtel Pralinen zum Nachbarn. Man konnte doch nicht ohne etwas kommen in dieser Zeit.

Bis zum 4. Advent waren es sechs Tage. Aber es gelang Frau Schmidt nicht, hinter das Geheimnis zu kommen. Sie hatte sich die Hausbewohner aufmerksam angesehen, hatte jeden gegrüßt und alle grüßten freundlich wieder. Meiers Kinder waren sehr nett. Und der Schulze hatte sie sogar um Entschuldigung gebeten wegen der nächtlichen Ruhestörung. Da glaubte sie, es endlich zu wissen. Deshalb habe er sich so viel Mühe gegeben mit den Päckchen. Herr Schulze sah sie verwundert an.

Der 4. Advent bescherte ihr wieder ein Päckchen. Aus goldenem Papier holte sie kopfschüttelnd ein buntlackiertes Räuchermännchen. Der Heilige Abend rückte näher. Frau Schmidt hätte sich gern für alle Gaben bedankt. Aber bei wem? Sie wagte es nicht mehr, einen anderen auf der Treppe zu übersehen, er hätte ja der Geber sein können. Als dann am Heiligen Abend eine Tüte rotbäckiger Äpfel vor ihrer Tür stand, hatte sie das Gefühl, die Äpfel hätten von jedem im Hause sein können. Denn alle waren sie doch auf ihre Weise recht nette Leute.